Farben sind Bestandteil menschlichen Lebens – vom Anfang bis zum Ende des Daseins. Die bewusste Beschäftigung mit Farben beginnt in der Kindheit. Sie sensibilisiert für ein differenziertes Wahrnehmungsvermögen und fördert die sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnisse. Damit ist sie ein zentraler Baustein für die Ausbildung ästhetischen Empfindens. Denn Farbe und Form haben immer eine Bedeutung in unserer Welt.
Die Wirkung von Farbe ist wissenschaftlich bewiesen. Hierzu gibt es die unterschiedlichsten Studien.
Und dennoch ist die eigene Erfahrung ausschlaggebend für die Entwicklung von Erkenntnissen. Die Dimensionen von Farbwirkungen sind vielfältig: symbolisch, kulturell, politisch, traditionell, kreativ, künstlerisch, ordnend, psychologisch – sowie die Relativitäten, die Farbe bedingen: der individuelle Geschmack und subjektives Empfinden, sowie das jeweilige Zusammenspiel von Raum, Zeit und Ziel.
„Wir sind ein Teil der Natur und nehmen daher alles Natürliche von innen nach außen wahr, wie die aufgehende Sonne. Alles Kulturelle aber nehmen wir umgekehrt wahr, dazu gehört auch die Information, um es zu verstehen.“
(Prof. Jan Teunen – Jean Tinguely)
Farben besitzen einen je eigenen Klang, eine Stimmfarbe, und sind vergleichbar mit Tönen in der Musik.
Farben in Südfrankreich klingen anders als Farben im Norden Europas, in Kalifornien anders als am Äquator, im Frühling anders als im Herbst. Hier wie dort, jetzt und dann werden sie bestimmt vom Licht und besitzen in den verschiedenartigen Kombinationen ihren je eigenen Rhythmus mit innerer Strahlkraft. Sie sind indes mehrdeutig – physikalisch messbar und zugleich emotional erfahrbar.
Damit haben sie auch immer mehrdimensionale oder widersprüchliche Wirkungen. Farben existieren immer nur in einem Kontext – ein illustrierendes Beispiel:
Fischerhäuser in kleinen, idyllischen Dörfern am Meer waren in manchen Gegenden bunt angestrichen, damit sie sich bei Nebel von ihrer Umgebung abhoben und dadurch eine sichere Navigation zurück in den Hafen ermöglichten, als die Instrumente dafür noch nicht vorhanden oder verbreitet waren. So erfüllten die Farben eine überlebensnotwendige Funktion und entwickelten sich mit Bildungsreisen, wirtschaftlichen Veränderungen und Tourismus zur romantischen Kulisse.
Farben ordnen eine Komposition in Raum und Zeit. Sie verleihen Räumen (innen wie außen) Tiefe, Struktur und Perspektive. Da kann es bestimmte Vorlieben und Vorstellungen geben. Die allgemeine Auffassung, dass Farbe reine Geschmackssache ist, kann jedoch nur ein Ausgangspunkt von vielen für die Betrachtung sein. Denn individuelle Vorlieben, der persönliche Geschmack sind immer in die jeweilige Situation zu übersetzen. Zum Beispiel funktioniert ein südeuropäisches Rosa in einem Haus auf Mallorca vollkommen anders als in einem Altbau in Berlin. Da kann das Mallorca-Rosa Vorbild und Inspiration sein, aber nicht eins zu eins übertragen werden. Vielmehr wird es aus seinem südeuropäischen Kontext in das kühlere, nordeuropäische Licht übersetzt, damit es den gewünschten Charakter entfalten kann und gelingt mit einem Rosa, das nicht eindeutig ist.
Farbe funktioniert nicht eindimensional, wie dies verschiedene Influencer*innen, Magazine und andere Zeitschriften in schlichter Manier als kurzfristigen Trend zu vermitteln versuchen:
DIE Farbe des Jahres – DIE Farbe für ein atemberaubendes Entrée – DIE Must-have-Farbe für ein schöneres Zuhause – DIE Farbe für Wohlbefinden – DIE Corbusier-Farbe, die überall funktioniert – DIE Charlotte-Perriand-Farbe für Insider usw. usf.
Das ist verführerisch simpel, frau*man ist up-to-date und Teil einer Community. Die Entscheidung wird vorgegeben mittels einer engen Auswahl.
Aber: das Thema ist wesentlich komplexer und anspruchsvoller.
Es zeichnet sich vor allem durch Ambiguität und widersprüchliche Wirkungen aus. Farbe lässt sich nicht entkoppelt vom jeweiligen Kontext betrachten, sondern benötigt vielmehr, wie oben bereits erwähnt, den Zusammenhang in einem ästhetisches Gesamtkonzept – sei es für ein Objekt, einen Raum, für eine Wohnung, für ein Haus oder für ein Gemälde oder eine Fotografie.
Nochmals: Der Kontext definiert die Farbwirkung, die Farbstimmung, das Farbtempo. So lassen sich in einer Komposition Farben auch immer einteilen in Haupt- und Nebenfarben. Die Nebenfarben beeinflussen die Wirkung der Grundfarbe.
Ein Beispiel wie wichtig Farbpräzision und mit ihnen ihre Nuancen sind, veranschaulichen die Restaurierungsarbeiten des Humayun-Mausoleums, einem Großbau der Mogularchitektur aus dem 16. Jh. in Dehli.
Es wurden 20 000 Versuche für die passende Fliesenglasuren unternommen, um genau den richtigen Lapislazuli-Blauton zu finden. Diese Fliesen sind ein Element von vielen, das die Architektur in ihrer Gesamtwirkung einzigartig macht.
Es kommt darauf an, die Komplexität insgesamt zu erfassen und zu erkennen und ihr eine Sprache, einen Klang und eine Richtung zu verleihen.
Denn wie in einer mehrstimmigen Fuge von Bach gibt es Räumlichkeit, gibt es Perspektive und Rhythmus, bestehen Parallelen zur Mathematik und zur Architektur. Da wiederholen sich verschiedene Motive, Formen und Stränge, spiegeln sich oder reflektieren sich oder verknüpfen sich, stoßen sich ab, werden im Krebsgang weitergeführt.
Zur Ergänzung: Eine Fuge ist in ihren Strukturen und Teilen weniger starr und bietet damit mehr Spielraum für emotionalen und künstlerischen Ausdruck.
(vgl. Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach – ein Endloses Geflochtenes Band)
Farben schaffen Möglichkeiten bestimmte Elemente oder Aspekte zu inszenieren. Sie geben als ästhetisches Konzept Struktur und einen ordnenden Zusammenhang – dies auch für ganze Stadtviertel und Stadtbilder. Was macht Paris und Venedig so einzigartig?
Stadtplaner achten mehr und mehr darauf, dass sich einzelne Hausbesitzer mit ihrer Farbenwahl für Fassaden in ein gewachsenes Stadtbild entsprechend einer vorgegebenen Auswahl einfügen, und nicht z.B. nach Aufmerksamkeit heischende grelle Farben wählen, die mit persönlichem Geschmacksempfinden und Geltungsbedürftigkeit als Ausdruck des Ich-Ich-Ich verheerende Folgen für das Gesamtbild verursachen.
Vielmehr muss eine nuancierte Balance entstehen, die den Zusammenhang erfasst, damit eine ästhetische Gesamtkomposition entstehen kann, die mehrere Ebene miteinander verbindet und ein Gefühl der Stimmigkeit erzeugt.
Menschen lassen es sich bei einem Spaziergang in einem sonnigen Herbstwald gut gehen: Da gibt die Natur alles an Farben, die sie zur Verfügung hat: Nicht nur eine oder zwei Farben, sondern ein ganzes Orchester an unterschiedlichen Farben und Farbtönen: Himmelblau, Grasgrün, Kastanienbraun, Herbstlaubrot, Bodengrau und-und-und... Bei genauem Hinschauen entdeckt man, dass der so ruhig und harmonisch anmutende Wald voller farblicher Kontraste ist – und erst daraus seine lebendige Ruhe erwächst. Da ist die Umgebung voller Lebendigkeit, Gleichklang, Ruhe und Harmonie, ja Eleganz – trotz der erkennbaren Vielfalt und der offensichtlichen Gegensätze.
Wie auf einer Landkarte lassen sich mittels Farben und Formen räumliche Gegebenheiten in bestimmten Dimensionen erweitern oder in eine andere Richtung führen. Grundlage hierfür ist dann ein „Landschaftsplan“ – ein Konzept – der ein bewussteres Vorgehen garantiert und damit den Blick weitet, ihn über den sichtbaren Rahmen hinaus und auf die unmittelbare Umgebung ausdehnt, die weitere Nachbarschaft mit einbezieht, sowie auch das Quartier und das Stadtbild insgesamt.
Denn Farbe definiert den Charakter eines Ortes. Sie ist dabei immer abhängig von den vorherrschenden Parametern, wie zum Beispiel den Lichtverhältnissen und navigiert die ästhetische Wahrnehmung und das Empfinden, erzeugt Zusammenhänge, Verknüpfungen und Perspektive – und damit nicht zu unterschätzende Emotionen – hoch- und niederschwellige.
So sind Farben niemals eindeutig, sondern nur in ihren Nuancen wahrnehmbar, sinnlich erfahrbar und begreifbar. Dies ist eine Regel, die ebenso für die Gestaltung mit Weiß-Tönen gilt. Es hat sich allerdings im Laufe der Zeit eine Konformität gepaart mit einer Angst und Flucht herausgebildet, die Weiß als Nonplusultra auserkoren hat, um sich nicht mit Farben auseinandersetzen zu müssen, um sich in einer vermeintlichen Sicherheit zu wiegen, um keinen „Fehler“ zu machen und um sich keiner ablehnenden Kritik auszusetzen – „Weiß geht immer, da weiß frau*man was sie*er hat“. Jedoch:
„Wer nur Schwarz und Weiß kennt und von Farben oder gar Nuancen überhaupt nichts weiß“ – oder wissen will – „der kommt mit seiner simplen Optik bestens durch. Dass darüber der Reichtum und die Schönheit der Farben verloren gehen, stört den Farbverächter nicht. Er genießt die perfekte Überschaubarkeit seiner reduzierten Welt.“
(Jörg Scheller im Interview mit dem Philosophen Wolfgang Welsch: „Das angebliche Eigene ist hochgradig fiktiv“, 26.09.2017, Neue Zürcher Zeitung)
Verschiedene Steine eines Kaleidoskops, setzen sich immer wieder zu neuen Bildern zusammen. Aus diesen Mosaiksteinen entstehen dann immer wieder neue Facetten, die wiederum ihrerseits neue Aspekte bilden in immer neuen Konstellationen.
Im Zusammenspiel verlieren Farben ihre Eindeutigkeit, erscheinen „heller oder dunkler, mehr oder weniger intensiv, leuchtender oder trüber, wärmer oder kälter, dünner oder leichter oder dicker oder schwerer, höher und näher oder tiefer und weiter weg, opak wird durchscheinend, nah beieinanderliegende Farben scheinen sich zu überlagern...“
(Josef Albers)
Hiermit ist für die Konzeptionierung die Beantwortung der folgenden Fragen zentral:
In einer Komposition lassen sich Farben auch immer einteilen in Haupt- und Nebenfarben, Nachbarfarben, Unterfarben – letztere beeinflussen die Wirkung der Grundfarbe.
Im Wechselspiel der Farbenidentitäten, die miteinander in Beziehung treten und sich gegenseitig verändern, dreht sich alles um die Gestaltung eines komplexen Gleichgewichts. So existiert Farbe, die aus sich heraus leuchtet, nur im Kontext einer weiteren Farbe.
„Zudem wird, was immer aus sich heraus existiert, entweder auf etwas anderes einwirken oder aber, umgekehrt, hinnehmen, dass etwas anderes auf es einwirkt.“
(Lukrez, „DE RERUM NATURA – Über die Natur der Dinge“, Erstes Buch: Von den Urelementen, 440)
Mit mehreren Farben und einer größeren Auswahl entsteht Lebendigkeit, Bewegung und Wohlbefinden. Menschen schauen gerne aufs Meer oder auf Berge, weil sich in der Weite die Farben sich ständig verändern, die Stimmungen wechseln. Vielleicht lässt sich dabei eine Einheit spüren, die in früheren Zeiten selbstverständlich war: Die Einheit aus Musiktheorie, Mathematik und Philosophie. In diesem Verständnis wurde der Gleichklang von Melodien zu in Stein gemeißelte Harmonien verwandelt, wovon zum Beispiel die Pyramiden in Ägypten Zeugnis ablegen. Denn geometrische Formen erscheinen als harmonisch eingeteilt, wenn sie genau im Verhältnis musikalischer Ton-Intervalle geteilt sind und dann dieses Teilungsverhältnis als Töne in Bauwerke übertragen wird.
Auch die im 14. Jahrhundert entdeckte Fibonacci-Zahlenfolge inkl. Goldenem Schnitt ist ein solches Grundprinzip einer in der Natur angelegten Ästhetik.
Für interessante Gestaltungsmöglichkeiten kann davon wiederum gewollt abgewichen werden, um attraktive Spannungsverhältnisse mit Disharmonien zu erzeugen.
Jüngste Erkenntnisse aus der Quantenphysik führen genau wieder dorthin, machen deutlich, wie sehr es auf vernetztes Denken, Wahrnehmen und Erkennen ankommt, um verschiedenen Potenzialitäten Realität werden zu lassen und welche ästhetischen Grundlagen in unserer Welt angelegt sind.
Wir müssen einsehen lernen,
dass man Farbe auch visuell
tasten kann – und dort wie hier
aber auch hören fern sowohl wie nah
sogar schmecken – als süss und anders
und erkennen dass sie
nicht nur dunkel oder hell
oder warm oder kalt wirkt
sondern auch schwer und leicht
agiert und trocken und nicht trocken
und alles das in Stufen
von grossen wie kleinen Steigungen
oder deutlichem bis unmerklichem
zu wie Abschwellen und so sich bewegt
von Sprechen zu Singen
von leise zu laut
oder leuchtend zu gedämpft
womit sie uns einädt
zu einer endlosen Reihe
von Adjektiven und Adverbien
und gar erlaubt sie zu
deklinieren und konjugieren
in einer Sprache
– nur der Farbe eigen
(Josef Albers)
Verweis: Die Definition für den Begriff „Farbe“ im Ästhetik-Lexikon bei CONTOR FRANCK
https://contorfranck.de/glossary/farbe/
Harry Clark (Gründer und Geschäftsführer harryclarkinterior)
und
Matthias Franck (Gründer und Geschäftsführer von CONTOR FRANCK)